Auf der Zwischenebene
Heinz Ohff zum Werk von Hermann Krauth
Kunst kommt nur selten aus der Natur. Sie verläuft, Paul Klees vielzitiertes Wort, parallel zur Natur, aber sie kommt aus Kunst. Im Werk eines jeden Malers überschneiden sich daher mehrere Verbindungslinien zur Vergangenheit. Wer seinem Werk auf die Spur kommen will, darf diese Linien, die oft wie ein Spinnennetz verlaufen, nicht übersehen.
Als Hermann Krauth geboren wurde, 1954, herrschte weltweit die tachistische Malerei, das Action-Painting, der Abstrakte Expressionismus oder unter welchem Namen immer die vollabstrakte Nachkriegsmalerei in die Kunstgeschichte eingehen wird. Walter Stöhrer, einer seiner Lehrer, begann eben sein Studium bei einem freilich Nicht-Abstrakten, bei HAP Grieshaber, der eine andere Tradition fortsetzte, die des deutschen expressionistischen Holzschnitts. Sein zweiter Lehrer, Wolfgang Petrick, nahm erst vier Jahre später sein Studium auf; er allerdings bei einem Vollabstrakten, bei Werner Volkert. Um die Verwirrung, die die Musen anscheinend sehr lieben, voll zu machen, wurde der, der bei einem Expressionisten studierte, eher abstrakt, und der, der bei einem Abstrakten studierte, eher gegenständlich. Als Krauth begann, war das schon Vergangenheit und nahezu abgeschlossen.
Mehr noch: man "studiert" ja nicht nur bei seinen Lehrern, fast intensivere Anregungen erhält man von Altersgenossen, in diesem Fall jenen Neo-Expressionisten, die sich, zumindest damals in Berlin, die "Heftigen" nannten. Wir haben damit jenes Liniengeflecht aufgezählt, das Krauth sich wie einen Mantel umlegen konnte: den freien Nachkriegsimpuls vehement aus sich herausgeschleuderter Lebens- oder Überlebenszeichen, die nicht mehr ganz freie, sich an Schrift und Hieroglyphen anlehnende Gestik aus dem-mehroderweniger-Unbewußten, die Einbeziehung sozialkritischer Zusammenhänge und, am Ende, die alte und neue deutsch-expressionistische Tradition.
Krauth hat, von Anfang an, diese Stilströmungen miteinander verbunden, sie durcheinander- und dadurch zusammengewirbelt. Er ist, ebenfalls von Anfang an, kein Epigone geworden, {ein Stöhrer-, Petrick- oder Sonstwie-Nachfolger, sondern ein Maler, der es sich auf einer eigenen Zwischenebene einzurichten verstand. Er war imstande, das Beste zu tun, was ein junger Maler tun kann, um sich im Dschungel der Anregungen, die auf ihn einstürmen, zurechtzufinden. Er schuf sich eine individuelle, eigene, unverkennbare Handschrift, die seinem Charakter, seinem Temperament, seiner Aussagekraft entsprach, einen Stil zwischen den Stilen, eine Eigenart der Betrachtungs- weise, die dann sein eigentlicher Lehrherr wurde. Aus ihr hat er ein malerisches Œuvre entwickelt, das sich auf höchst natürliche Weise entfalten konnte wie eine Pflanze, ein Strauch, ein Baum.
Seit der ersten Serie, mit der er sich in Berlin bekannt machte, den südamerikanischen Generälen, hat er seine Bildwelt in Reihen gleichsam aus sich herausgeschleudert. Das Ende eines Bildes bedeutet für Krauth, wie es scheint, den Anfang eines Neuen, das in Angriff genommen wird. Man hat manchmal das Gefühl, als wäre es ein Unrecht, aus dieser Kette, die oft wie nahtlos ineinander übergeht, ein Bild herauszunehmen, bei- nahe herauszurupfen, greifen sie doch vor und zurück und bilden insgesamt einen Zusammenhang wie die einzelnen Kapitel eines epischen Werks.
Freilich: vereinzelt können die Bilder dann doch als Individuen sehr wohl und meist sogar glanzvoll bestehen. Man sieht einer Pflanze, einem Strauch, einem Baum ja auch nicht die Wurzeln an; aber sie müssen da sein wie bei allem Gewachsenen. Das ist das Schöne (aber auch das Wahre) bei Krauths Bildern: man merkt, daß sie gewachsen sind, keine künstlich erzeugten Gebilde, wie man so viele sieht: lebendige Lein- wände, die nicht nur aus Form und Farbe bestehen, sondern die sich gleichsam vegetativ entwickelt haben.
Nicht nur die Bilder einer Reihe oder Serie greifen ineinander über, sondern auch deren wechselnde Thematik. Krauth malt, im übertragenen Sinn, selten oder nie die Totale. Er wählt ein Detail, das kennzeichnend wird für etwas Größeres, Gesamtes und variiert es, bis es sich auflöst oder sich aus ihm ein anderes Detail entfaltet. Seine Kreuzigungen, oft in nur drei Farben hingeworfen -Rot, Weiß und Schwarz -, zeigen bisweilen den Körper des Gekreuzigten und alle Qual grausamer Todesfolter, oft aber auch nur das Kreuz selbst, das freilich nie zum Symbol erstarrt. Es gewinnt pflanzliche Substanz, die an seine wie Blitze züngelnden Kakteenbilder erinnert oder auch an eines der Gesichter, die bei ihm eher aus der Farbe heraus sich schmetterlingshaft entfalten. Die Fallenden und Stürzenden, die weiblichen Akte, die Landschaften und Chimären, die - immer wieder -Köpfe, die wie aus gestischen Hieben entstanden scheinen, stehen alle stellvertretend für vieles andere und für viele andere. Krauth ist ein Maler der Ambivalenz. Er zeigt, daß das Sichtbare viele Möglichkeiten beinhaltet, unzählige Anklänge auszulösen versteht, daß die Welt, in der wir leben, niemals eindeutig ist, sondern vielfältig interpretiert werden will.
Da wachsen dann mit der Thematik die Bildinhalte zusammen. Vegetatives und Religiöses, Gestisches und Symbolisches, Groteskes und Tragisches entstammen der gleichen Wurzel. Auf seiner Zwischenebene überschneidet sich daher auch Ekstatisches und Poetisches, Expressives und Tektonisches. Das ergibt erregende Zusammenhänge. Wer in Krauths Bilder eintaucht, wird gründlich durchgerüttelt. Unter ihrer stürmischen Oberfläche gähnen Abgründe. Sie gähnen sogar hinter oder unter den formal wie farblich beruhigten Kompositionen, auch wenn sie den Betrachter nicht zu verschlingen drohen. In ihren Bann ziehen sie allemal, in einen Zwischen- bereich, der zwar nicht surreal, wohl aber subreal anmutet. Ein Purgatorium. Um bei diesem Vergleich zu bleiben: es kann (und wahrscheinlich will es auch) eines, nämlich läutern. Was ebenfalls seit jeher eine Aufgabe der Kunst gewesen ist. Krauth hat nichts anderes getan, als dieser uralten Aufgabe eine neue, individuelle Dimension zu geben.
Heinz Ohff, geboren 1922, gestorben am 24. Februar 2006 in Berlin, war von 1961 bis 1987 Feuilletonchef des Berliner »Tagesspiegel«. Von ihm liegen zahlreiche Biographien vor, unter anderem über Königin Luise von Preußen, Karl Friedrich Schinkel, Fürst Pückler-Muskau, Theodor Fontane und die Könige Preußens sowie die »Gebrauchsanweisung für England« und die »Gebrauchsanweisung für Schottland«. Er veröffentlichte auch unter dem Pseudonym N. Wendevogel.