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Ikonen pervertierter Menschlichkeit

Helmut A. Müller zur Ausstellung im Hospitalhof Stuttgart 1989

 

Das Kreuz spielt als Chiffre von Gewalt und Tod in der Kunst des späten 20. Jahrhunderts über die Grenzen der Kulturen hinweg eine zentrale Rolle. Künstler wie Joseph Beuys, Arnulf Rainer, Werner Knaupp und Herbert Falken haben dem Kreuz in ihrem Œuvre eigene Werkgruppen gewidmet.

Unter den Formulierungen von Künstlern aus der sogenannten Dritten Welt ragen die Todesbilder der peruanischen Gruppe Chaclacayo (Helmut J. Psotta, Raúl Avellaneda, Sergio Sevallos) als gültige Gestaltung obszönen Todes und als Protest gegen Terror, Gewalt und Unterdrückung heraus. Als Opfer von Gewalt verliert der Mensch seine ihm eigene Gestalt. Erinnerungen an die Vision vom Gottesknecht bei Jessaja werden wach: „Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.“ (Jesaja 53, 2 + 3).

Unter den Künstlern der jüngeren Generation hat sich der Berliner Hermann Krauth unter anderem zentral mit dem Kreuz befasst. Den 1954 geborenen Krauth hat die Allgegenwart von Gewalt und Terror von Menschen gegen Menschen bei einer Reise durch Zentralamerika Anfang der Achtziger bis ins Mark hinein erschüttert. Das Erleben der Allpräsenz von Todesschwadronen, Guerilleros, Folter, Entführung und Ermordung auf offener Straße hat ihm seine bisher eher sanft-akademischen Themen wie Akte, Stilleben und räumliche Interieurs radikal in Frage gestellt und zu Themen neuer Sinnqualität geführt: Der vielbeachteten Serie „Generale“ folgten die Serien „Guerilleros“, „Verfolgung“, „Folterung“ und „Kreuzigung“. Die Arbeiten der Serien „Folterung“ und „Kreuzigung“ sind in ihren letzten Formulierungen zu gültigen Ikonen pervertierter Menschlichkeit geworden, die die dem Menschen innewohnende zerstörerische Potenz sinnfällig vor Augen führen. Daß in diesen Arbeiten Protest gegen Menschenverachtung und damit die Sinndimension des Kreuzes Christi aufleuchtet, kann in Komposition, Bildaufbau und Farbigkeit abgelesen werden. Diese „Serien stellen im bildnerischen Zentrum einen einzelnen Menschen als Opfer von Tortur dar, um den sich weitere Figuren, die Folterer gruppieren. Ich variierte Komposition, Bildaufbau und Farbigkeit, dabei regten mich auch die Gemälde mittelalterlicher Meister wie Grünewald und Memling oder die Bilder italienischer Renaissance-Maler an.“ (Hermann Krauth)

Diesen Serien verwandt sind die Serien „Dornenbaum“ und „Landschaftszeichen“. Im Dornenbaum verschmelzen Kreuz, Lebensbaum und Dornenkrone zu neuer bildnerischer Gestalt. Die Landschaftszeichen erinnern analog zu Wegkreuzen aus früheren Jahrhunderten daran, dass das Kreuz der Herrschaft über Mensch, Kreatur und Natur durch mitkreatürliche Haushalterschaft, also durch ganzheitlichere, weibliche Formen des Umgangs mit dem Leben einschließende Tugenden ersetzt werden muß.

Helmut A. Müller ist seit 1987 Leiter des Evangelischen Bildungszentrums Hospitalhof Stuttgart

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