Schnappschuß in die Kunstszene
Bernhard Schulz im Tagesspiegel am 26.04.1987 zur Eröffnung der Ausstellung "Momentaufnahme" in der Kunsthalle Berlin
Nähme man die Empörung, die dem „Skulpturenboulevard", oder richtiger, den zwei umstrittensten seiner sieben Plastiken entgegenschlägt, zum Maßstab des öffentlichen Umgangs mit Kunst, die gestern in der Kunsthalle eröffnete Ausstellung „Momentaufnahme" müsste einen wahren Proteststurm befürchten.
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Nichts dergleichen wird geschehen. Daß die Kunst unserer Zeit, unseres ganzen Jahrhunderts eine Zumutung darstellt und kein Trostpflaster für die ungelösten Probleme der spätindustriellen Gesellschaft, gilt nur mehr eingeschränkt. Im Schutzraum des Museums, das sich in der Liste der Freizeitvergnügen mittlerweile einen vorderen Platz erkämpft hat, bleibt die Kunst - von den Attentaten verwirrter Existenzen einmal abgesehen - in behüteter Ruhe. Der Eintritt in diesen Schutzraum signalisiert noch dem wütendsten Banausen, daß er hier allenfalls verbal sein Missvergnügen äußern darf, das er in seinem alltäglichen Umfeld, in das die Skulpturen im Stadtraum hineinragen, nur um so deutlicher kundtut.
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Es ist erschreckend und bezeichnend für den Zustand unserer Gesellschaft, daß die Kunst dieses Schutzraumes Museum bedarf, um öffentlich existieren zu können. Unter dem Mantel allgemeinen Wohlbefindens sind die Ängste offenbar zu groß. um die radikale Absage der zeitgenössischen Kunst an Trost und Transzendenz aushalten zu können. Die allenthalben zu beobachtende Flucht in die Vergangenheit, die ja keine reale Geschichte meint, sondern nur deren Disneyland-Version, hat mittlerweile auch die Kunst erreicht, wo - insbesondere in Italien - fingerflinke Handwerker dabei sind, neoklassische Dekorationsstücke fürs Gemüt zu liefern.
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Nicht so in Berlin. Die .Momentaufnahme" bietet keinen Seelentrost, sondern Reibeflächen. Vier Experten der Berliner Szene haben dazu ihre subjektive Auswahl getroffen; für drei von ihnen markiert die Ausstellung in der Kunsthalle zugleich eine Zäsur. Eberhard Roters, der Gründer der Berlinischen Galerie, trat kürzlich in den Ruhestand; Heinz Ohff, den man hier nicht weiter vorstellen muss. folgt ihm darin; Wieland Schmied, langjähriger Leiter des Berliner DAAD-Künstlerprogramms hat eine Professur in München erhalten. Einzig Dieter Ruckhaberle bleibt inmitten des Geschehens. wiewohl auch er nach zehn Jahren Kunsthallenleitung Abstand gewinnt zur tagespolitischen Aufgeregtheit, die in der Kunst noch nie zu dauerhaften Ergebnissen geführt hat.
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Es hätte unter diesen Vorzeichen durchaus nahegelegen die „Momentaufnahme" in eine Retrospektive umzudeuten. Nichts dergleichen; wohl nie zuvor sah die Kunsthalle eine so lebendige, so unvermittelt zeitgenössische Ausstellung. Das ist Stärke und Schwäche zugleich. Nichts muss historisch gerechtfertigt werden, aber kein historischer Rang lässt sich so begründen. Die Quintessenz der Berliner Kunst anno 1987 muss später einmal gewonnen werden.
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Der Auftakt ist furios. Was sich in der neo-expressiven Welle der vergangenen Jahre bald allzu konfektionsmäßig präsentierte, kommt in der von Eberhart Roters ausgewählten ersten Abteilung ungemildert zum Durchbruch. Es spielt keine Rolle, ob die Bilder ungegenständlich sind wie bei Fred Thieler, allegorisch wie bei Wolfgang Petrick oder chiffrenhaft wie bei ter Hell: Was hier auf der Leinwand vibriert, ist eine unmittelbare, sinnliche Erregung und Kraft oder, besser gesagt mit Roters eigenen Worten, ein „Discosound ..., mit aller optischen Phonstärke“. Wobei der „Discosound“ gleich wieder zu streichen wäre, denn die Bilder bieten nicht Zerstreuung sondern zwingen zur Wahrnehmung, ohne jene Gefälligkeit der urbanen Metaphern, mit denen die Welle der „Heftigen Malerei" um 1980 auf ein bilderhungriges Publikum traf.
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Rot dominiert, obwohl es durchaus nicht die meistgebrauchte Farbe bildet. Es ist ein aggressives Rot, das Unruhe und Unsicherheit signalisiert und allein ausreichen müsste, den Unmut harmoniebedürftiger Betrachter zu erregen: Wäre da nicht jenes Verhaltensmuster, das Kunst im musealen Getto fraglos bei sich beließe.
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Gegen diese gutbürgerliche Friedhofsruhe hat schon Ludwig Meidner vor dem Ersten Weltkrieg angemalt, den Roters als Ahnherren des Neo-Expressionismus integriert hat. Rot setzte er übrigens höchst sparsam ein; seiner Zeit waren die morbiden Töne eines sumpfigen Grün und eines bleiernen Blauschwarz gemäßer. Alle vier Abteilungen der Ausstellung haben eine solche historische Leitfigur, ohne dass damit ein Lehrer-Schüler-Verhältnis unterstellt wäre. Vielmehr geht es darum Schwerpunkte und Kontinuitäten im künstlerischen Profil Berlins zu bezeichnen, das sich gleichwohl so oft und so schnell gewandelt hat wie die Realgeschichte ringsum.
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Den Gegenpol markiert am hinteren Ende des langgestreckten oberen Kunsthallentraktes die Abteilung von Wieland Schmied. Mit Hans Uhlmann erinnert er an die konstruktive Tradition der Stadtm, die zu Zeiten nicht minder umstritten war als heute der Realismus von Betonauto und Absperrgitter. Auch Uhlmanns abstrakte Plastik vor der Deutschen Oper hätten mehr als einige Außenseiter liebend gern gegen ein repräsentatives Bärchen eingetauscht. Den Bildern, die Schmied vorstellt, ist auch heute kaum großes Allgemeinverständnis sicher. Vom eher gestischen Armando - einer der vielen Gäste, die in Berlin künstlerisch heimisch geworden sind - über den an feinsten Weißabstufungen geradezu schmerzhaft arbeitenden Raimund Girke bis zu Johannes Gecelli, dessen Leinwände durch Farbstreifen förmlich zerrissen werden, führt eine konsequente Linie. Übrigens hat sich Schmied mit dem kargen Ambiente der Kunsthalle, die ihre Herkunft als Bürotrakt wahrlich nicht verleugnen kann, nicht zufrieden gegeben und, ein Novum in diesem Haus, eine wirkliche Ausstellungsarchitektur entwerfen lassen. Es ist erstaunlich, mit wie einfachen Mitteln diesen Räumen doch noch eine der Kunst gemessene Umgebung abgerungen werden kann.
Die schönste Harmonie der Gegensätze herrscht in dem zentralen Raum der von Heinz Ohff betreuten Abteilung. Die Stahlskulpturen der Bildhauergruppe „Odious“ korrespondieren wie selbstverständlich mit den ebenso kraftvollen Gemälden von Dieter Hacker, Karl-Horst Hödicke und Herrmann Krauth. Selbst wo die Odious-Mitglieder David Lee Thompson und Klaus Hartmann farbige Metallteile verwenden, oder Skulpturen starkfarbig bemalen, überschreiten sie doch die Grenze ihres künstlerischen Mediums nicht, wie umgekehrt die expressiven Maler dieser Abteilung ganz innerhalb der Möglichkeiten der Malerei agieren. Das wohl sichert die Korrespondenz der ansonsten so unterschiedlichen Materialien.
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Die Möglichkeiten der Malerei vorführen: das war das Ziel des von Dieter Ruckhaberle ausgewählten Ausstellungsteils. Er ist bei weitem heterogener als die anderen drei Abteilungen, auch weil Ruckhaberle unbeirrt zu denjenigen Künstlern steht, die er im Laufe seines Direktorates bereits in Einzelausstellungen gewürdigt hat, egal wie ihre momentane Bedeutung sein mag. Im einzelnen kann das eher Nibelungentreue als kunsthistorisches Qualitätsurteil heißen, aber es verweist doch zu Recht darauf, dass sich in Berlin, unbeschadet aller Tagesmoden, eine unglaubliche Vielfalt künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten durchhält, und genau diesen Pluralismus gegen all die einseitigen Festlegungen der vergangenen Jahre vorzuführen, macht die Vitalität dieser Ausstellung aus.
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„Momentaufnahme“ ist ihr richtiger Titel, gerade auch gegen die fälligen Einwände; ein Schnappschuss mit Trouvaillen und ebenso auch Auslassungen. Der ganze Bereich der „grenzüberschreitenden“, der zwischen den festgefügten künstlerischen Medien oszillierenden Kunst fehlt, der Kunst mit Räumen, Situationen, Gegebenheiten. „Büro Berlin“, um nur die wichtigste Gruppierung zu nennen, ist dem Auswahlquartett nicht einmal in Fußnoten untergekommen. Was hätte gerade der Mitteltrakt der Kunsthalle mit seiner zugigen Kompromiß-Cafeteria für ein Aktionsfeld geboten!
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Aber das waren die frühen achtziger Jahre. Wie immer in der Gegenwartsaufnahme fallt die jüngste Vergangenheit einer merkwürdigen Amnesie anheim. Moritzplatz, Garage, 1/61 - Stichworte einer schnell versunkenen Zeit. Die „Momentaufnahme“ ist wie ein Polaroid: unscharf, entlarvend, zufällig und von unüberbietbarer Aktualität. Wer je „Zeitgeist“ beschworen hat, findet ihn hier, mit allen Widerhaken, auch wenn ihm der „Schutzraum Museum“ Narrenfreiheit sichert.